Seit Mai 2014 untersucht die Stadtbibliothek Bautzen die Herkunft (Provenienz) ihrer Bestände. Der Altbestand, die sogenannte alte Stadtbibliothek, hat eine jahrhundertelange Geschichte. Demzufolge ist die Geschichte der Bestände ebenso lang. Doch gerade im 20. Jahrhundert kamen die Bücher durch die politischen Verhältnisse nicht immer rechtmäßig in die Bibliothek. So ist sie zwar Besitzer, aber nicht Eigentümer verschiedener Exemplare. Die schwierigste Aufgabe ist die Forschung nach NS-Raubgut, denn hier besteht eine hohe moralische Verpflichtung, die Eigentumsverhältnisse zu klären und die geraubten Bücher zur Rückgabe anzubieten.

Was ist NS-Raubgut?

Als NS-Raubgut gelten Bücher und Kunstgegenstände, die im Zusammenhang mit Verfolgungsmaßnahmen in der Zeit des Nationalsozialismus entzogen oder in Folge des Zweiten Weltkrieges verlagert wurden oder abhandengekommen sind. Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg fördert diese Forschungen auch an der Stadtbibliothek Bautzen. Grundlage für die Arbeit des Zentrums in diesem Bereich sind die 1998 international verabschiedeten Washingtoner Prinzipien, zu deren Umsetzung sich Deutschland im Sinne seiner historischen und moralischen Selbstverpflichtung mit der Gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz im Jahr 1999 bekannt hat.

Wie kommt NS-Raubgut in die Stadtbibliothek?

Im Zuge der Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass geraubte Bücher auf ganz verschiedenen Wegen ab 1945 in den Bibliotheksbestand gelangten. Alle diese Exemplare befinden sich im Altbestand, da sie dort Bestandsschutz haben und in einem separaten Magazin stehen.

Bisher konnten Bücher von Gewerkschaften und Gewerkschaftlern aus Bautzen und der Region identifiziert werden. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 besetzten Bautzener SA-Truppen Anfang März das Gewerkschaftshaus in der Nordstraße 1 (heute Dr.-Maria-Grollmuß-Straße). Sie beschlagnahmten und verbrannten Bücher und Dokumente. Danach löste man die einzelnen Gewerkschaften auf, verhaftete die Gewerkschaftler und gründete im Mai die Deutsche Arbeitsfront (DAF) als nationalsozialistische Einheitsgewerkschaft. Einige Bücher einzelner Gewerkschaften wurden nach Kriegsende in der Bibliothek abgegeben, angekauft oder kamen durch Schlossbergungen in den Bestand.

Zudem konnten Teile der einst 4.000 Bände zählenden Büchersammlung der jüdischen Unternehmerfamilie Edith und Georg Tietz identifiziert werden. Nach der Enteignung der Familie wurde deren Besitz durch den NS-Staat „verwertet“ und die Büchersammlung an die Reichstauschstelle verkauft, die mit dem Wiederaufbau kriegszerstörter Bibliotheken beauftragt war. Diese unterhielt mehrere Depotstandorte in der Nähe von Bautzen. Nach Kriegsende gelangten die Bücher in die Stadtbibliothek Bautzen und wurden in die verschiedenen Abteilungen eingearbeitet. Ungefähr 500 Bücher befinden sich noch heute in den Magazinen.

Wie geht Bautzen mit NS-Raubgut um?

Die Stadt geht offensiv mit ihrer Geschichte um. Sie ist deutschlandweit die erste Kommune, die die Gemeinsame Erklärung in einer Stadtbibliothek umsetzt, indem sie ihre Bestände auf unrechtmäßige Zugänge kontrolliert. Finanzielle Unterstützung bei der systematischen Erforschung erfährt sie dabei vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste. Die Ergebnisse des Projektes werden auf verschiedenen Wegen öffentlich gemacht. Zum einen sind alle verdächtigen Bücher im WebOPAC der Bibliothek recherchierbar. Man kann nach den Vorbesitzern (Provenienz) und nach NS-Raubgutfällen suchen. Ziel der NS-Raubgutforschung ist, eine gerechte Lösung zu finden. Die Stadtbibliothek Bautzen bietet den heutigen Eigentümern die Rückgabe (Restitution) der Bücher an. Mancher Eigentümer verzichtet jedoch darauf, die Bücher zurückzunehmen. In diesem Fall fungiert die Bibliothek als Erinnerungsort. Sie macht diese Fälle im Katalog sichtbar und nimmt sie in ihre Dauerausstellung auf. Sie präsentiert die Forschungen der Öffentlichkeit mit einem Flyer, Lesezeichen und einem Plakat. Die Veröffentlichungen über die Bautzener Raubgutforschung in verschiedenen Fachzeitschriften können im Sachgebiet Altbestand ausgeliehen werden.

Flyer „Wie finde ich die Vorbesitzer der Bücher? Wie finde ich NS-Raubgut im Katalog?“